Ich bin auf einen Berg gegangen. Aber es war, wie die Frau gestern in der Information mir auch schon versucht hat verständlich zu machen, kein Spaziergang in dem Sinn, auch keine Wanderung sondern tatsächlich eher Bergsteigen. „Warum nicht hier entlang, ein schöner Spaziergang, zweieinhalb Stunden in eine Richtung und wieder zurück…“ Aber natürlich bin ich trotzdem auf den Berg, weil da doch ein Berg ist. Die Gründe, warum ich auf einen Berg steigen will erschließen sich mir nicht ohne weiteres. Das ist tief verwurzelt und ambivalent.
Ich bin in Arthur’s Pass. Nach meinem Ausflug auf Rakiura, der „dritten Insel“ Neuseelands, Steward Island, bin ich wieder in den Norden gefahren, nicht nur weil s nach Süden tatsächlich nicht viel weitergeht, ich hab einen Flug zu erwischen und zwischen den Bedingungen des öffentlichen Verkehrs und den Ansprüchen des Reisenden dauert das ein wenig. Zurück durch Dunedin und Oamaru, wieder zurück in mein Christchurcher Hostel, in dem ich vor zwei Wochen angekommen bin. War wohl mehr entlang der Vertrautheit entschieden: eine halbe Stunde vom Bus entfernt und eine Dreiviertelstunde vom Bahnhof, an dem ich um acht in der Früh sein sollte. Unpraktisch aber machbar.
Der Bahnhof schaut nicht aus wie ein Bahnhof. Da ist nur der Schalter, zwei Schalter, aber sonst keine Infrastruktur. Spätestens, als ich im Zug Platz nehme (mein Fahrschein, der mir einen Fensterplatz zuweist, hat einen Abriss), merke ich, dass das kein Zug ist, mit dem man reist. Also natürlich fährt der Zug dorthin, wo ich will, aber er ist viel mehr ein Ausflugs-, denn ein Reisezug. Es gibt einen Audiokommentar, über den mir eine neuseeländische Frauenstimme über die Entwicklung der Gegend erzählt, durch die wir fahren. Durchaus interessant: In der Gegend um Christchurch ist weniger als ein Prozent der Pflanzenwelt einheimisch. Weil hier praktisch alles Farm- und Weideland ist und dafür wurde einfach Platz gemacht in den letzten hunderfünfzig Jahren. Und natürlich auch die Geschichte darüber, wie hier ein Weg über die Alpen gesucht und mit Unterstützung der Maori gefunden und zur Bebauung ausgewählt wurde. Ich sitze eh gern im Ausflugsbus, merke ich.
Vor mir sind mehere Reihen mit US-AmerikanerInnen besetzt, die über Boston hierhergeflogen sind („I try to avoid flying over New York as much as possible.“) und die etwa in ihren Sechzigern stecken. Es ist interessant, weil ich so wenig US-AmerikanerInnen begegne, im Vergleich mit Europa beispielsweise, dass ich jedesmal wenn ich ihnen gegenüberstehe, ein bisschen überrascht bin. Mit L. in Queenstown war das auch so, dass ich mich letztlich richtig gefreut hab, weil ich mag eine gewisse amerikanische Art eigentlich ganz gern, selbstbewusste Naivität, interessiert und auf eine eigene Art menschenbezogen.
In Arthur’s Pass ist eine Station und hier steig ich aus. Das Hostel ist selbstverwaltet, also nicht im Sinne davon, dass es jemand unabhängig von einer Hostelkette betreibt, sondern in dem Sinn, dass sich das Hostel selbst betreibt. An der Tür ist ein Telefon, das einen automatisch zum Besitzer durchklingelt, der checkt mich ein, gibt mir den Code für die Tür und wünscht mir viel Spaß. In der Küche steht eine Honesty Box, in der man seine Nächtigungsgebühr einwirft. Es ist gemütlich. Eine Zeit lang sieht es so aus, als hätte ich das ganze Haus für mich, gegen Abend trudeln zwei schweigsame Ich-glaub-es-sind-BritInnen-aber-wie-gesagt-in-erster-Linie-schweigsam ein, aber es ist immer noch sehr heimelig.
Am Nachmittag mach ich einen kleinen Spaziergang zu einem der vielen Wasserfälle. Und bin fast an einer Rettungsaktion beteiligt. Die Frau im Infozentrum, ja, die von oben, telefoniert bisschen an ihrem Walkie-Talkie, weil da eine Rettungsaktion im Gange ist und sie ist eigentlich eine von den CheckerInnen, aber heute muss sie den Shop betreiben, weil irgendwer muss da sein und den Leuten sagen, dass sie lieber nicht den Avalanche Peak besteigen sollen sondern sich vielleicht lieber einen netten Spaziergang durch den Wald vornehmen sollten. Quasi: Notrettungsvorbeugung. Und jetzt muss da eine Karte in die Nähe getragen werden, ob ich vorhabe, zum Wasserfall rauf zu gehen. Ja, sage ich, aber ich hätte zuerst noch einen Bissen gegessen und überhaupt, ein paar Dinge heimtragen, andere Schuhe und so weiter. Im Nachhinein hab ich nämlich durchaus ein schlechtes Gewissen entwickelt, dass ich nicht sofort zur Stelle war. Aber die ganze Situation – da war noch ein dritter daneben, der davor schon viel Gelassenheit verströmt hat – hatte so wenig Dringlichkeit. Und natürlich dann die Rechtfertigungen: Ich hatte zu dem Zeitpunkt nur halb verstanden, wo der Wasserfall sei. Unverantwortungsvoll, nachdem ich den ganzen Tag nur getrocknetes Rindfleisch genascht hatte, aber eigentlich ohne Frühstück in Christchurch aufgebrochen. Und insgesamt keine Ahnung von den Gegebenheiten vor Ort und auf nichts vorbereitet. Allerdings ist der Wasserfall auch nur eine Stunde entfernt gewesen und während ich dorthin unterwegs war, hab ich mir wiederholt gedacht: na, das wäre schon spontan möglich gewesen.
Nichtsdestotrotz war ich erst einmal in dem günstiger wirkenden der zwei Cafés und dann daheim, bisschen einen Rucksack packen, ein Wasser, übriggebliebene Müsliriegel aus Rakiura, Fernglas und alles. Und dann wieder im Shop hat sie gemeint, danke, aber es sei bereits wer anderer unterwegs. Und das war nicht uninteressant, weil ich glaube, dass der, den sie da letztlich vom Berg gehubschraubert haben, ich glaube, das ist einer von meinen Schweigsamen gewesen. Weil ich zufällig im Raum war, da ist noch ein Herr gekommen, der ein paar Personalien aufgenommen hat und mir ein „One of those days, ey?“ zugeraunt hat, als der Schweigsame auf der Suche nach seinem Pass war. Und dann hat er ihn noch ein bisschen gemaßregelt im Sinne von: du bist ja nicht der erste, der die orangen Markierungen übersieht, nicht der erste, der bis an die Schlucht herankommt, aber vielleicht der erste, der einfach weitergeht. Und das fand ich etwas unfair, weil dem Schweigsamen war das natürlich sowieso alles furchtbar unangenehm und der hat sich dann auch gleich einmal schlafen gelegt, als der Herr mit seinen Personalien wieder abgezogen ist. Aber auch den kann man verstehen, von einer menschlichen Seite her muss ich der natürlich auch den Schock ein bisschen aus den Gliedern reden und wenn er da nur den Bergstolperer selbst vor sich hat, nun, dann ist das ein bisschen unprofessionell und eben auch etwas unfair. Aber wenn das Adrenalin sich dann verabschiedet und man trotzdem noch keinen distanzierten Blick auf die Sache gewonnen hat, dann rutscht einem sowas eben einmal hinaus. Hoffen wir, dass es bloß das gewesen ist.
Und heute bin ich dann auf den Berg. Ich wollte früh los, weil in meiner Beratung im Informationszentrum hab ich diesen Blick bekommen, mit dem man jemanden fragt, ob er einen verarschen will, als ich gefragt hab, ob sie mit „früh los“ eine Zeit eventuell nach neun auch noch mitmeint. Aber ich kenn mich ja und auch wenn ich einen Wecker für sieben hatte bin ich, na, sagen wir nicht vor neun am Bergfuß gestanden. Dann hab ich einmal den Weg rauf nicht gefunden und dann hab ich den Weg rauf nicht wirklich fassen können. Weil der Weg auf Avalanche Peak, abgesehen davon, dass es zwei gibt, aber einer ist wohl eher für rauf und der andere dann üblicherweise für runter. Aber Avalanche Peak, das ist ein Gipfel, der über tausend Meter über dem Pass liegt, gleichzeitig aber ist der Weg dorthin nur zweieinhalb Kilometer lang. Also: steil. Und da gibt s dementsprechend viel zu klettern und zu kraxeln.
Naja, long story short: Ich bin noch nicht an der Baumgrenze gewesen, als ich mir gedacht habe, es wird wohl klüger sein nur bis zur Baumgrenze zu gehen, weil der Weg nachher noch etwas unangenehmer werden soll. Und etwa zweihundert Meter weiter hab ich mir gedacht: Baumgrenze, Schaumgrenze, ich dreh gleich um. Weil: Verantwortungsvoll. Und nachdem es sich um einen Aufstieg handelt, für den ich eh schon relativ spät war, ich noch niemanden gesehen hatte und gerade erst das Dach mit einem Opfer der eigenen Zielstrebigkeit geteilt hatte, hab ich ein bisschen Sorge bekommen, wie s mir geht, wenn ich hier irgendwo hängen oder liegen bleib oder entsprechend schlimmeres.
Auf dem Weg zurück habe ich dann natürlich nachgedacht: Wieso dieses Auf-den-Gipfel-Wollen. Und wieso dieses Loslassen davon so mühsam ist. Und wie ich mit Anerkennung für diese vernünftige Entscheidung umginge, insbesondere wenn diese aus jener Richtung käme, von der ich die Gipfelstreberei ja überhaupt erst übernommen habe. Und dann ist mir ein Spanier entgegengekommen, der mich gefragt hat, wie weit s noch rauf ist. Weiß nicht, sicher noch ein Stück, sag ich, ich sei grad umgedreht, weil s mir dann doch zu steil ist und ich allein am Berg mich damit nicht besonders wohl fühle. (So in etwa. Mir ist, nebenbei, in diesem Gespräch aufgefallen, dass ich mit ihm ein bisschen so rede, wie man – oft komisch überzeichnet – im Film mit Leuten redet, die eine Sprache nicht gut können: kurze Wörter, viel Nachfragen und wohl auch etwas lauter als normal.) Darauf sagt er, dass der Ausblick sicherlich sehr schön sein von oben. Und ich denke mir: ja, vielleicht. Aber ist das der Grund, warum ich auf einen Berg gehe? Erlebnis, Erfahrung, Selbst- oder Fremdbeweis?
Oft einmal zerdenk ich vielleicht etwas. Ich muss es vielleicht nicht wissen, warum ich auf einen Berg gehe und mich dabei derartigen Meta-Überlegungen hingebe.
Stattdessen war ich dann im Wald spazieren. Dass das ganze so knapp an der Straße ist, die über den Pass führt, war visuell kaum wahrzunehmen, ab und zu rauscht einem halt ein Auto durch den Vogelgesang, war aber eine angenehme Wanderung, die mich auch nicht so recht an einen Punkt geführt hat. Irgendwann hat sich der Weg schlicht so verlaufen gehabt, dass ich mir gedacht hab, Lake Misery hin oder her, ich mach mich auf den Heimweg. Der angekündigte Regen ist auch ausgeblieben, aber ich war halt trotzdem um drei wieder daheim.